Loslassen bedeutet Neubeginn
Das setzt auch die Akzeptanz des Todes voraus. Denn zur Vollkommenheit des Lebens gehört die Bereitschaft, sich dem Tode auszuliefern und sich durch ihn verwandeln zu lassen. Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Bote einer neuen Seinsweise. Solange wir dies nicht erkennen, wenden wir uns gegen das Leben und weigern uns, den kosmischen Gesetzen zu folgen. ...
Im Christentum haben wir zu sehr den Tod verkündet, obwohl uns Jesus Christus mit der Botschaft der Auferstehung deutlich an einen Neubeginn verwiesen hat. Sterben bedeutet, die Hand zu öffnen und alles, was uns am Leben hindert, loszulassen. Das heisst auch, von lieb gewordenen Vorstellungen, Überzeugungen und Weltanschauungen Abschied zu nehmen. Unser Ich ist die meiste Zeit in einen nicht endenden Kampf gegen die Vergänglichkeit verstrickt. Und weil wir um die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes wissen, sind wir zutiefst von Angst erfüllt. Wir suchen nach Sicherheit bei anderen Menschen, in unserer Arbeit, in der Anhäufung von Reichtum, wir stürzen uns in hektische Betriebsamkeit und meinen, wir müssten etwas zurücklassen, wenn wir einmal nicht mehr sein sollten.
Doch alles Streben nach Sicherheit erweist sich letztlich als vergeblich. Das einzig Beständige ist die unablässige Verwandlung. »Alles fliesst«, erkannte bereits Heraklit. Das Einzige, dessen wir uns wirklich sicher sein können, ist unser Tod. Nur wer den Tod annehmen kann, wird sich wandeln und zu einem Ja zum Leben finden. Nur wer alles losgelassen hat, dessen Hand kann neu gefüllt werden. Die Religionen sollten uns vermitteln, dass der Tod nicht für das Ende, sondern für einen Neubeginn steht.
Aus Ewige Weisheit, Willigis Jäger, 2010